Corporation
Die Tage werden kälter und die Nächte immer länger – höchste Zeit, sich auf die Suche nach einem schönen Rollenspiel zu machen, das den Winter etwas erträglicher gestaltet. Für mich ist diesjährige Software-Pirsch bereits beendet…
Ein gutes Rollenspiel fängt bekanntlich mit dem Handbuch an, werfen wir also mal einen Blick in den Schmöker: Der deutschsprachige Teil umfasst ca. 30 Seiten und ist vorbildlich gegliedert – Einführung, Erläuterung der Screen-aufteilung und allgemeine Verhaltensmassregeln. Alles da und leicht verständlich geschrieben, wir können uns also beruhigt der spannenden SF-Story widmen:
Innerhalb eines Jahrzehns hat sich die „European Cybernetics Corporation" zur grössten Wirtschaftsmacht der Welt gemausert, einfach indem sie haufenweise Roboter unter die Leute gebracht hat. Zwar wurden die Menschen reihenweise arbeitslos, aber wen kümmert's, wenn ohnehin die Blechkameraden für einen schuften? Während praktisch jedermann im Freizeit-Paradies schwelgte, traten ein paar betuchte Kunden mit dem Wunsch nach einer richtig schönen Killermachine an die Corporation heran. Der Kunde ist bekanntlich König (besonders wenn er die nötige Kohle hat), also machte man sich an die Entwicklung. Unter strengster Geheimhaltung, da illegal, wurde mit Genmanipulation experimentiert. Vom Forschungserfolg bekam die ahnungslose Bevölkerung erst Wind, als sich eine der Kreaturen aus der Londoner Fabrik verabschiedete, um mal auszuprobieren, wie Passanten schmecken. Jetzt hatte die Regierung den Salat: Aus Rücksicht auf die Weltwirtschaft kontte die Corporation schlecht dicht gemacht werden, anderseits kann man sowas ja auch nicht einfach durchgehen lassen. Wenn man nun aber Beweise für die genetischen Spielereien in der Hand hätte, könnte man darauf drängen, die illegalen Forschungen einzustellen, ohne dass die legalen Aktivitäten der dubiosen Firma zum Erliegen kommen. Und genau diesen Beweis in Form eines manipulierten Embryos soll der Spieler nun aus dem Fabriksgebäude klauen. So weit, so schlecht – schieben wir also die erste der beiden Disks ins Laufwerk. Nachdem man die stimmungsvolle Eröffhungssequenz gebührend bewundert hat, wird die zweite Diskette eingelegt, und man darf sich aus sechs Charakteren den passenden aussuchen. Zur Auswahl stehen zwei Frauen, zwei Männer und zwei Androiden, die natürlich alle unterschiedliche Werte für Ausdauer, Stärke, Geschicklichkeit, etc. haben. Die Androiden verfügen allerdings über keinerlei PSI-Kräfte, dem SF-Gegenstück zu den guten alten Zaubersprüchen. Aber auch die menschlichen Charaktere müssen erst eine bestimmte Droge, oder besser noch ein formschönes Stirnband finden, ehe sie schweben oder sich per Gedänkenkraft selbst heilen können. Freilich geht's auch ohne PSI: Wie wäre es zum Beispiel mit einer feinen Handfeuerwaffe? Oder einer hübschen, kleinen Bombe? Auf jeden Fall ist ein Medizinköfferchen nützlich, und auch ein Schutzanzug hat noch nie geschadet. Vier Modelle stehen zur Wahl, die sich in Preis, Gewicht und Leistungsfähigkeit unterscheiden. Sobald man nichts mehr tragen kann oder das Budget erschöpft ist, macht man sich auf den Weg in die Grusel-Fabrik. Die erste Station der Wanderschaft ist ein Lift, mit dem man sich von Etage zu Etage bewegen kann; vorerst reicht meine Zugangsberechtigung aber nur bis zum fünften Stock. Nachdem ich mich also mittels Mausklick auf das Augen-Icon umgesehen habe, „handhabe" ich die Kontrollen für den Fahrstuhl. Mit dem Steuerungsfeld wird die Spielfigur in die gewünschte Richtung bewegt – anfangs ist das etwas gewöhnungsbedürftig, aber sobald man den Bogen erstmal raus hat, geht's recht flott voran. Nach ein paar Schritten stosse ich auf eine Überwachungskamera, die mit einem gezielten Schuss verschrottet wird. Leider sind diese Kameras hier nicht das einzige Übel, es gibt auch druckempfindliche Bodenplatten und Infrarotstrahlen. Den gefährlichen Platten kann man noch relativ leicht ausweichen, die Strahlen aber sind unsichtbar. Ausser natürlich, man hat einen Sichtverstärker mitgebracht, der per Mausklick übergestülpt werden kann. Der Verstärker nützt aber gar nichts gegen das wirklich hässliche Monster, das mir schon bald den Weg versperrt! Ich ziele also sorgfältig mit dem mausgesteuerten Fadenkreuz, drücke den linken Button und – sehe mit Erstaunen, dass das widerlichte Vieh gänzlich unbeeindruckt ist. Auch weitere Schüsse aus näherer Position zeigen keine Wirkung, mir fällt aber auf, dass mein Widersacher zwar grimmig guckt, sich ansonsten jedoch nicht von der Stelle rührt. Und siehe da: Das Ungeheuer entpuppt sich als Projektion, die man völlig ungefährdet durchschreiten kann! Klar, dass im weiteren Spielverlauf noch etliche Roboter, Monster, usw. Auftauchen, die weniger pflegeleicht sind – immerhin schön abspeichern, lautet die Devise! Ich hoffe, zwischenzeitlich ist deutlich geworden, das Corporation selbst neben Meilensteinen der Softwaregeschichte wie „Bard's Tale" oder „Dungeon Master" eine gute Figur macht. Die Handhabung geht im allgemeinen voll in Ordnung, nur die umständliche Save/Load-Prozedur drückt ein bisschen auf die Stimmung. Die gelungene Icon-Steuerung vermittelt dem Spieler jederzeit das Gefühl, die Sache voll im Griff zu haben. Auch die Vektor-Grafik kann begeistern, sie iest schnell und flüssig. Und die gut animierten Gegner sind sowieso eine Augenweide! Hinzu kommt ein packende Titelmusik und stimmungsvolle Effekte während des Spiels. Was Corporation aber zu einem Hit macht, ist die komplexe und fesselnde Story, gefolgt von einem Schwierigkeitsgrad, der Wochen und Monate lang motiviert, ohne frustrierend zu werden. Da kann es nur ein Fazit geben: Holt Euren besten Kampfanzug aus der Mottenkiste und besorgt Euch dieses Game – es lohnt sich! (Hans-Werner Raabe) Amiga Joker, November 1990 |
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hinzugefügt: October 30th 2013
Magazin: AJ
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Sprache: german